Ein System des Schweigens – und des Wegschauens
Es ist eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren österreichischen Zeitgeschichte – und es ist eines, das sich nicht einfach abschließen lässt, weil die Tinte der letzten Enthüllungen kaum getrocknet ist, während schon neue Fälle auftauchen. Die Rede ist vom systematischen Missbrauch durch Angehörige der römisch-katholischen Kirche in Österreich. Und mehr noch: von der gezielten Vertuschung, der organisierten Verantwortungslosigkeit und einem Schutzsystem, das weniger den Opfern dient als den Tätern.
Denn was wir in Österreich erleben, ist keine Aneinanderreihung unglücklicher Einzelfälle. Es ist ein strukturelles Problem. Ein Machtapparat, der jahrzehntelang unkontrolliert agieren konnte, in sich selbst immunisiert und vom Staat allzu oft mit Samthandschuhen angefasst wurde.
Die Kirche als Schutzraum – aber für wen?
Es ist ein bitterer Hohn: Die Kirche, die sich als Schutzraum für die Schwachen versteht, wird in vielen Fällen zur Schutzmacht für Täter. Priester, gegen die schwere Vorwürfe bestehen, werden nicht etwa suspendiert oder angezeigt. Sie werden versetzt. Aus dem Pfarrhof in einen anderen Sprengel, aus der Stadt auf das Land, aus der Öffentlichkeit in die Unsichtbarkeit. Das Narrativ: „Wir müssen prüfen.“ Der Effekt: Die Opfer bleiben alleine, die Täter bekommen eine neue Bühne.
Diese Praxis ist keine Randnotiz – sie ist Methode. Sie schützt nicht nur Täter, sie produziert neue Opfer. Denn mit jeder Versetzung wird das Risiko weiterer Übergriffe nicht verhindert, sondern verlagert. Und die sogenannte „Unterkirche“, also einzelne Gemeinden, Klöster und Orden, werden Teil eines Systems, das mehr an den Schutz der Institution als an das Leid der Betroffenen denkt.
Ein Staat, der zu lange weggesehen hat
Der österreichische Staat hat zu lange zugesehen. Zu oft wurde das Kirchenrecht höher bewertet als das Strafrecht. Zu häufig wurde „innerkirchliche Aufklärung“ akzeptiert – als wäre ein Pfarrer eine eigene juristische Kategorie außerhalb unserer Republik. Diese Sonderstellung muss ein Ende haben. Es kann nicht sein, dass Täter in einer Institution, die sich christlichen Werten verschreibt, mehr Schutz genießen als in einem säkularen Konzern oder Verein.
Was jetzt passieren muss: Gesetzesreform – sofort
Es braucht endlich eine gesetzliche Grundlage, die eindeutig klärt:
- Sofortige Freistellung bei schweren Vorwürfen gegen kirchliche Amtsträger – nicht irgendwann, nicht „nach Prüfung“, sondern sofort.
- U-Haft oder elektronische Fußfesseln, wo es angezeigt ist – wie bei jedem anderen mutmaßlichen Täter. Keine Ausnahmen mehr.
- Ein ordentliches, staatlich geführtes Gerichtsverfahren, in dem das Kirchenrecht nichts zu suchen hat. Die Republik Österreich ist keine Nebenbühne des Vatikans.
- Anerkennung kirchlicher Sonderrechte für die Täter? Schluss damit. Der Stand eines Priesters darf keinen Millimeter rechtlichen Vorteil bringen.
- Massive Strafzahlungen seitens der Kirche an die Opfer. Und zwar in einer Höhe, die wirklich wehtut – finanziell, öffentlich, institutionell. Keine Symbolbeträge, sondern Summen, die echte Verantwortung abbilden.
Denn nur wenn die Kirche nicht nur mit moralischem, sondern mit echtem institutionellem Schmerz konfrontiert wird, wird sie beginnen, sich zu bewegen. Die bloße Aufarbeitung in Gremien, die sie selbst einsetzt, ist ein schlechter Witz.
Die Zeit der Rücksicht ist vorbei
Was wir brauchen, ist keine neue Runde aus Betroffenheitsfloskeln, keine öffentlichen Schuldbekenntnisse mit trauriger Orgelmusik im Hintergrund. Wir brauchen klare politische Kante. Und den Mut, sich mit einer Institution anzulegen, die in Österreich noch immer über beachtlichen gesellschaftlichen Einfluss verfügt. Wer heute über Missbrauch in der Kirche spricht, muss auch über die politische Verantwortung sprechen, die es braucht, um dem ein Ende zu setzen.
Denn so lange es möglich ist, dass mutmaßliche Täter einfach versetzt werden – so lange ist nicht das Evangelium das Leitbild der Kirche, sondern das Eigeninteresse. Und so lange ist auch die österreichische Justiz Teil eines Problems, das längst ein nationales Trauma geworden ist.
0 Kommentare