Ein offener Blick auf ein verschlossenes Denken
Es ist 2025. Die Welt ist digital, vernetzt, laut und vielfältig. Flugtaxis sind keine Utopie mehr, künstliche Intelligenz führt längst Gespräche mit uns – und trotzdem: In den Köpfen vieler Österreicherinnen und Österreicher scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Genauer gesagt: Irgendwo in den 1940er- bis 1950er-Jahren. Man könnte fast meinen, es gäbe eine nostalgische Sehnsucht nach jener Zeit, als alles noch „geordnet“ war, Religion ein Monopol war und Diversität ein Fremdwort blieb.
Was hat sich verändert? Viel. Was hat sich im Denken verändert? Erschreckend wenig.
Kurze Zusammenfassung für Eilige: Kirchenglocken um 5:30 Uhr sind „kulturelles Brauchtum“, der Muezzin ist eine „feindliche Übernahme“.
Diese Doppelmoral ist kein neues Phänomen, sie ist vielmehr ein lang eingeübtes Muster. Und es wird Zeit, dass wir es beim Namen nennen. Österreich rühmt sich gerne mit seiner freien Religionsausübung – zumindest solange sie christlich ist, traditionell wirkt, oder am besten römisch-katholisch daherkommt. Alles andere? Unheimlich, bedrohlich, „nicht zu uns passend“.
Wenn die Kirchenglocken schon in der Morgendämmerung losbimmeln, ist das für viele ein Teil der „österreichischen Identität“. Ein sanftes Erwachen, ein Zeichen von Heimat. Wenn jedoch ein Muezzin ruft – wohlgemerkt über Lautsprecher, zu einer ähnlichen Uhrzeit – dann schrillen nicht nur die Alarmglocken, sondern auch die ideologischen Sirenen: „Religiöse Unterwanderung! Islamisierung! Die wollen uns übernehmen!“
Warum eigentlich?
Freiheit – aber bitte nur für uns
Die österreichische Verfassung garantiert die freie Religionsausübung. Doch in der Praxis gilt diese Freiheit oft nur für jene Religionen, die traditionell als „unsere“ gelten. Alles andere wird argwöhnisch beäugt, reglementiert, kritisch kommentiert – oder gleich verboten.
Dabei geht es gar nicht darum, ob jemand den Klang von Glocken oder Gebetsrufen schön findet. Es geht um Gleichheit. Und darum, dass wir in einem Land leben, das sich gerne als weltoffen und tolerant bezeichnet, aber diese Begriffe offenbar falsch übersetzt hat. Offenheit scheint in vielen Köpfen immer noch zu bedeuten: „Offen, solange es so bleibt, wie ich es gewohnt bin.“ Toleranz heißt: „Ich toleriere dich, solange du so bist wie ich.“
Das Problem sitzt tief – historisch gewachsen und ideologisch gepflegt
Österreich war nie wirklich gut darin, mit dem „Anderen“ umzugehen. Ob es sich um andere Sprachen, Hautfarben, Religionen oder Lebensentwürfe handelt – unser Umgang damit ist oft geprägt von Misstrauen, Abwehrhaltung und vorschnellen Urteilen. Die katholische Kirche war jahrhundertelang Staatsreligion, das hat Spuren hinterlassen. Der Nationalsozialismus hat seine ganz eigenen Schatten geworfen. Und auch die Nachkriegszeit war nicht gerade ein Paradebeispiel für pluralistisches Denken.
Statt Aufarbeitung gab es Verdrängung. Statt Dialog das Prinzip „Red’ ma net drüber“. Und so schleppt sich dieses Misstrauen durch die Jahrzehnte – verpackt in Stammtischparolen, Parteiprogramme und Zeitungsleserbriefe.
Ein Muezzin ist kein Angriff auf deine Identität
Es ist erschreckend, wie schnell sich manche Menschen in ihrer Identität bedroht fühlen, sobald sie auf etwas stoßen, das nicht in ihr Weltbild passt. Ein Muezzin ist kein Angriff auf das Abendland. Ein Kopftuch ist keine Kampfansage. Und ein Moscheebau ist kein „territorialer Sieg“ irgendeiner Glaubensarmee.
Der wahre Angriff auf unsere Gesellschaft kommt nicht von außen, sondern von innen – von jenen, die mit dem Begriff „Freiheit“ nur dann etwas anfangen können, wenn sie ihn exklusiv definieren dürfen. Die Religion als Platzhalter für Ressentiments missbrauchen. Und die mit Schlagwörtern wie „Tradition“ und „Heimat“ eine Mauer um ihre Vorurteile bauen.
Es wird Zeit, die Glocken der Vernunft läuten zu lassen
Wenn wir in einem wirklich freien, pluralistischen und demokratischen Land leben wollen, dann müssen wir endlich anfangen, unsere Maßstäbe zu überdenken. Freiheit bedeutet, dass auch der andere frei ist. Auch dann, wenn er anders glaubt, anders denkt, anders lebt.
Es ist nicht die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, zu entscheiden, welche Religion „zu Österreich passt“. Es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, sicherzustellen, dass niemand wegen seines Glaubens diskriminiert oder diffamiert wird – auch wenn das manchen unbequem ist.
Fazit: Die Zeit ist reif – für ein echtes Umdenken
Österreich hat das Potenzial, ein Land der Vielfalt zu sein. Aber dafür müssen wir uns endlich von alten Denkmustern verabschieden. Glocken und Gebetsrufe können nebeneinander existieren. Heimat ist kein exklusives Gefühl. Und Religion ist kein Grund zur Angst – sondern ein Ausdruck von Freiheit.
Was sich in den letzten 80 Jahren verändert hat? Vieles. Aber im Kopf leider noch zu wenig. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir nicht nur unsere Gebäude, Technologien und Infrastruktur modernisieren – sondern endlich auch unser Denken.
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