Warum wir lieber über den Tellerrand gaffen, statt in die eigene Suppe zu schauen
Der hippokratische Eid ist eine noble Sache. Doch heute, im Zeitalter von „Ich will aber mehr als du!“, leben die „Nicht-Mediziner“ längst nach einem anderen Grundsatz: dem hippokratischen Neid. Und dieser scheint zur neuen Volksseuche geworden zu sein – hoch ansteckend, quer durch alle Schichten, und anscheinend völlig unheilbar.
Dabei würdest du ja meinen, dass wir uns einfach mal ein bisschen in die eigene Suppe lehnen könnten. Einmal reinschauen. Einmal kosten. Einmal feststellen: Hey, eigentlich gar nicht so schlecht hier drin!
Aber nein – stattdessen glotzen wir ständig über den Tellerrand. Nicht, um neugierig zu sein oder die Welt zu entdecken, sondern um zu schauen, was die anderen haben … und ob es nicht geiler, größer oder teurer ist als das, was wir haben.
Mehr ist mehr, egal was es kostet
Wir leben in einer Zeit, in der „zufrieden“ fast als Beleidigung durchgeht. Wer sagt, dass er zufrieden ist, wirkt verdächtig – wie jemand, der heimlich aufgegeben hat.
Also muss alles immer mehr sein. Mehr PS, mehr Kilos an Markenklamotten, mehr Zentimeter Fernsehdiagonale.
Und natürlich das Auto. Klar. Ein Auto ist heute weniger Verkehrsmittel, sondern mehr Schwanzvergleich auf vier Rädern. Wer noch selbst einparkt, hat sein Leben nicht im Griff.
Urlaub?
Nicht einfach irgendwo fahren und entspannen – nein, du brauchst den Urlaub, der auf Instagram so aussieht, als wärst du mindestens nominiert für den „Global Fancy People Award“.
Weiter weg, länger weg, teurer weg – Hauptsache, irgendwer bekommt neidische Migräne, wenn er die Fotos sieht.
Designmöbel oder doch ein Käfer in Holzoptik?
Der nächste Trend: Möbel, die so teuer sind, dass du sie eigentlich versichern lassen müsstest – obwohl sie aussehen, als hätte jemand den alten kaputten VW Käfer von Oma Resi in Einzelteile zerlegt und neu zusammengeschraubt.
Aber hey, wenn das Wohnzimmer so viel kostet, wie der reißen SUV in der Wiener Kurzparkzone, dann muss es gut sein, oder?
Es geht ja nicht um Design. Es geht um das Gefühl, dass andere es sehen und sich denken: „Ui.“
Und dieses „Ui“ ist uns so viel wert, dass es gern mal dem Monatsbudget die Hand bricht.
Die religiöse Verehrung des Neuesten
Kaum kommt ein neues iPhone, flippt die halbe Bevölkerung aus.
Nicht, weil das alte Gerät kaputt wäre – natürlich nicht. Es funktioniert hervorragend.
Es hat halt nur einen mega Fehler: Der Akku hält halt nicht mehr drei Tage.
Aber das Neue! Es glänzt! Es hat vielleicht eine Kamera mehr! Es sieht aus wie das alte iPhone, nur… neuer!
Und genau das reicht.
Das alles ist der hippokratische Neid. Das stille Grundrauschen unserer Konsumkultur. Das unbemerkt in unserem Kopf flüstert:
„Schau mal, was die anderen haben. Das müsstest du auch haben. Mindestens.“
Ein Blick in die eigene Suppe könnte heilsam sein
Wahrscheinlich wäre die Therapie ganz simpel:
Einmal wirklich ehrlich schauen, was man selbst hat.
Was man sich aufgebaut hat.
Worauf man stolz sein kann.
Aber das ist anstrengend. Wirklich anstrengend.
Es ist viel einfacher, anderen beim „Haben“ zuzusehen und sich dann darüber zu ärgern, dass man es selbst nicht hat.
Doch wenn du deinen Kopf nur einmal kurz in deine eigene Suppe hältst, merkst du vielleicht: Die ist gar nicht so schlecht gewürzt.
Vielleicht sollten wir unser eigenes Rezept feiern – statt das der anderen stehlen zu wollen
Der hippokratische Neid ist letztlich die Krankheit, die entsteht, wenn die Gesellschaft die ständige Unzufriedenheit als Statussymbol verkauft.
Je mehr du willst, desto mehr scheint es, als wärst du wer.
Aber eigentlich ist es genau umgekehrt:
Je mehr du brauchst, desto weniger hast du.
Und vielleicht, nur vielleicht, wäre es Zeit, wieder ein bisschen Dankbarkeit ins Spiel zu bringen.
Nicht dieses kitschige „Ich schau was ich hab und bin demütig“-Ding, sondern eine ehrliche Erkenntnis:
Das hier bin ich. Das hier habe ich. Und das ist gut so.
Denn statt eines Eids, der uns zu guten Menschen macht, leben wir gerade nach einem Neid, der uns zu dauernd unerfüllten Menschen macht.
Zeit, den hippokratischen Neid mal umzuschreiben. Oder besser: abzustellen.



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