In den letzten Jahren ist ein Begriff durch die Medienlandschaft gegeistert, der polarisiert wie kaum ein anderer: Cancel Culture. Je nachdem, wen Du fragst, ist sie entweder ein notwendiger Schritt zu mehr Verantwortung oder ein gefährliches Mittel der Meinungsunterdrückung. Doch was bedeutet Cancel Culture eigentlich genau? Und warum sorgt sie für so viel Aufregung?
Was bedeutet „Cancel Culture“?
Der Begriff Cancel Culture (zu Deutsch etwa: „Abbruchkultur“ oder „Kultur des Auslöschens“) beschreibt das gesellschaftliche Phänomen, bei dem Personen des öffentlichen Lebens – ob Promis, Politiker:innen oder Influencer:innen – für problematische Aussagen oder Verhaltensweisen öffentlich kritisiert und boykottiert werden. Diese Kritik kann so weit gehen, dass die betroffene Person ihren Job verliert, Verträge gekündigt werden oder sie gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet.
„Cancelled“ zu werden bedeutet also, dass eine Person sozial und/oder wirtschaftlich sanktioniert wird, weil sie sich in den Augen vieler moralisch oder politisch falsch verhalten hat. Die „Cancelnden“ sind in der Regel keine offiziellen Institutionen, sondern Einzelpersonen oder Gruppen, die über soziale Netzwerke oder mediale Aufmerksamkeit Druck ausüben.
Ein neuer Name für ein altes Phänomen?
Wichtig ist: Cancel Culture ist kein neues Phänomen. Gesellschaftlicher Boykott existiert, seit es Öffentlichkeit gibt. Denk an historische Beispiele wie Künstler:innen, die wegen ihrer politischen Haltung in Diktaturen zensiert wurden, oder Firmen, die aufgrund von Skandalen Umsatzeinbrüche erlitten haben. Neu ist vor allem die Geschwindigkeit und Reichweite, mit der diese Art von sozialem Ausschluss heute funktioniert – vor allem durch Plattformen wie Twitter (heute X), TikTok oder Instagram.
Wer wird gecancelt – und warum?
Die Gründe für „Cancel-Aktionen“ sind vielfältig: rassistische, sexistische oder homophobe Aussagen, problematisches Verhalten in der Vergangenheit, fehlende Reue, Machtmissbrauch oder politische Positionierungen. Beispiele gibt es viele:
- J.K. Rowling wurde wegen transfeindlicher Aussagen von Teilen der LGBTQIA+-Community heftig kritisiert und „gecancelt“ – obwohl sie nach wie vor Millionen verkauft.
- Künstler:innen wie Kanye West mussten nach antisemitischen Aussagen mit dem Verlust zahlreicher Kooperationen rechnen.
- Politiker:innen verlieren Ämter oder Rückhalt in der eigenen Partei, wenn sie öffentlich aus der Reihe tanzen – oft begleitet von massiven öffentlichen Kampagnen.
Was Cancel Culture bewegen kann
So umstritten das Konzept ist – es zeigt Wirkung. Und das nicht nur im Negativen. Hier einige Aspekte, die Cancel Culture positiv bewegen kann:
1. Verantwortung und Bewusstsein schaffen
In vielen Fällen zwingt der öffentliche Druck Personen dazu, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Es entsteht ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, was gesagt oder getan wird – und was das für Betroffene bedeutet. Das kann einen Lernprozess auslösen und langfristig zu einem respektvolleren Miteinander führen.
2. Machtkritik von unten
Cancel Culture ist oft eine Reaktion von Menschen, die sonst wenig Einfluss auf Machtstrukturen haben. Sie ermöglicht marginalisierten Gruppen, gehört zu werden, wenn andere Kanäle ihnen verschlossen bleiben. Der kollektive digitale Aufschrei wird zur Waffe gegen Ungleichheit, Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch.
3. Diskussionen anstoßen
Auch wenn die Diskussionen rund um Cancel Culture oft hitzig verlaufen, bringen sie wichtige Themen auf die Tagesordnung. Was darf Satire? Wie umgehen mit „Kunst von problematischen Künstler:innen“? Können Menschen sich ändern? Solche Fragen sind unbequem – aber notwendig.
4. Grenzen sichtbar machen
Gesellschaften verändern sich. Was früher akzeptiert war, ist heute problematisch. Cancel Culture macht sichtbar, wo sich Werte verschieben. Sie hilft, neue Grenzen des Sagbaren auszuhandeln – auch wenn das manchmal schmerzhaft ist.
Die Kritik an Cancel Culture
Natürlich ist nicht alles rosarot. Kritiker:innen werfen der Cancel Culture vor, intolerant, übertrieben und destruktiv zu sein. Besonders in konservativen Kreisen wird sie gerne als „linke Zensurmaschine“ dargestellt. Manche sprechen gar von einer Bedrohung der Meinungsfreiheit.
Und ja: Es gibt Fälle, in denen der Shitstorm über das Ziel hinausschießt, in denen Menschen für Kleinigkeiten existenziell abgestraft werden oder keine Möglichkeit mehr zur Rehabilitation bekommen. Besonders problematisch wird es, wenn das Internet zur Richter:in wird, ohne Kontext, ohne Verhältnismäßigkeit – und ohne zweite Chance.
Zwischen notwendiger Kritik und digitaler Hexenjagd
Cancel Culture bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen berechtigter gesellschaftlicher Kritik und digitaler Überreaktion. Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Denn das Ziel sollte nicht sein, Menschen komplett auszulöschen – sondern Verhalten zu verändern, auf Missstände aufmerksam zu machen und Machtverhältnisse zu hinterfragen.
Cancel Culture passiert nicht nur im Internet
Oft wird Cancel Culture als „Phänomen der jungen Menschen im Internet“ abgetan – als ob nur Instagram- oder TikTok-User:innen zur Empörung neigen würden. Doch die Realität sieht anders aus: Auch am Wirtshaustisch, im Vereinslokal oder auf Familienfeiern wird gecancelt – nur nennt man es dort nicht so. Wenn der „eine Onkel“ nicht mehr eingeladen wird, weil er sich zum dritten Mal über „die Ausländer“ beschwert hat, oder wenn der ehemalige Stammtischfreund nach einer frauenverachtenden Aussage plötzlich alleine am Tisch sitzt, dann ist das ebenfalls eine Form von Cancel Culture – ganz analog und ohne Hashtags. Der Unterschied: Es passiert leiser, subtiler – aber nicht weniger wirkungsvoll.
Fazit: Ein unbequemes, aber notwendiges Werkzeug
Cancel Culture ist weder die Hölle noch der Heilsbringer. Sie ist ein Ausdruck unserer digitalen und hypervernetzten Gesellschaft, in der moralische und ethische Fragen öffentlich – und oft sehr emotional – verhandelt werden. Sie hat das Potenzial, Veränderung anzustoßen, Aufmerksamkeit zu schaffen und Ungleichheiten aufzuzeigen. Aber sie braucht auch Augenmaß, Differenzierung und die Möglichkeit zur Entwicklung.
Denn am Ende sollte es nicht darum gehen, Menschen mundtot zu machen – sondern darum, zuzuhören, zu lernen und gemeinsam weiterzukommen.
0 Kommentare